Prozessleittechnik im virtuellen Umfeld für ein modernes Müllheizkraftwerk
250.000 Alarme, mehr als 10.000 Prozessobjekte, 54 Monitore. Wie lassen sich solche Mengengerüste in einem Prozessleitsystem verarbeiten und 700 Fremdsteuerungen sowie Komponenten verschiedenster Hersteller einheitlich in dieses System einbinden? Das Müllheizkraftwerk in Wuppertal hat dies in einer Anlagenmodernisierung realisiert – hochverfügbar und im laufenden Betrieb.
Fünf Verbrennungslinien, vier Rauchgasvorreinigungen, drei Rauchgasnachreinigungen und zwei Turbinen für eine Abfalltonnage von etwa 400.000 Tonnen pro Jahr – die AWG Abfallwirtschaftsgesellschaft Wuppertal betreibt für die thermische Behandlung von Abfällen ein Müllheizkraftwerk. In zwei Stufen sollte hier eine Modernisierung der vom bisherigen Leittechniklieferanten abgekündigten Prozessleittechnik erfolgen. Dabei war die Verfügbarkeit des Gesamtsystems aus zwei Gründen wichtig: Die Nichteinhaltung der Verträge mit den Kommunen führt zu hohen Vertragsstrafen, außerdem sind viele Endverbraucher von der Fernwärme abhängig. Im schlimmsten Fall ist ein Anlagenausfall mit einem unkontrollierten Austritt an Rauchgasen verbunden und stellt somit ein Risiko für Umwelt und Gesundheit dar.
Anforderungen
Das neue System wurde zunächst zu 100 Prozent im Parallelbetrieb geprüft, anschließend wurde die Hälfte der Bedienstationen des Altsystems gegen die neuen Simatic-PCS-7-OS-Stationen getauscht. Während einer vierwöchigen Testphase erfolgte eine intensive Systemprüfung und die Schulung der Bediener. Im Anschluss daran konnte das Altsystem abgeschaltet und die neue PCS-7-Leittechnik in Betrieb genommen werden.
400 Prozessbilder wurden ins neue System übernommen. Über 10.000 Prozessobjekte wurden in 35 Basistypen mit etwa 250 verschiedenen Derivaten (Ansichten) überführt. WinCC/ODK (Open Development Kit) konnte genutzt werden, um alle Prozessbilder des vorherigen Prozessleitsystems zu konvertieren und im neuen System einzubinden. Seitdem werden etwa 70.000 Prozessvariablen über das Bedien- und Beobachtungssystem ausgetauscht.
Besonderes Augenmerk wurde dabei auf eine hohe Systemverfügbarkeit gelegt. Diese wird unter anderem durch den redundanten Aufbau sämtlicher Hardwarekomponenten wie Server, Storages, Netzwerk-Infrastruktur, Zeitserver und Unterbrechungsfreie Stromversorgungen (USV) gewährleistet. Eine zusätzliche Sicherheit ist durch die räumliche Trennung des redundanten Systems gegeben. Durch den Einsatz eines virtuellen Clusters wird die Verfügbarkeit der Betriebssysteme sichergestellt. Beide Server sind so ausgelegt, dass im Fehlerfall ein Server allein das gesamte System übernehmen kann. Möglich ist dies durch die Verwendung eines redundanten Storage Clusters.
Das System von Siemens vereinheitlicht unterschiedliche Bedien- und Visualisierungsformen sowie deren Alarmsysteme. Maschinennahe Steuerungen unterschiedlicher Hersteller lassen sich mit Open OS nahtlos in die Prozessleittechnik und somit in ein einheitliches Bedien- und Beobachtungssystem integrieren. Die Überwachung aller Prozessobjekte, von der Initialzündung in den Brennern, der Stromerzeugung in Turbine und Generator, bis zur Emissionsüberwachung in der Rauchgasanlage, übernimmt das Bedien- und Beobachtungssystem von Siemens. Jeder Bediener überwacht bis zu zwölf Bildschirme gleichzeitig. Durch die übersichtliche, an das Altsystem angelehnte Darstellung, hat der Anlagenfahrer alle wichtigen Informationen im Blick. Neue Systeme und Komponenten können jederzeit und herstellerübergreifend im laufenden Betrieb integriert werden.
Innerhalb der nächsten fünf bis zehn Jahre soll Stufe 2, die Modernisierung der kompletten Automatisierungstechnik mit AS 410 Controllern von Simatic PCS 7, abgeschlossen sein. Für erste Tests ist bereits eine hochverfügbare AS 410 im Einsatz. Die Installation eines weiteren redundanten Simatic-PCS-7-Serverpaars ist schon im vergangenen Jahr erfolgt. Ist die Feldebene heutzutage noch klassisch verdrahtet, wird zukünftig auch bei der AWG mehr auf Buskommunikation und damit Profinet/Profibus gesetzt. Die Projektplaner sind sich schon jetzt einig, dass hierfür das dezentrale Peripherie ET 200 zum Einsatz kommen wird.